"Keine Religion" ist keine Lösung
Dessau-Roßlau, am – „Keine Religion bitte!“ So reagieren Menschen auf die grässlichen Nachrichten und Bilder aus Syrien. Das terroristische Wüten mit religiösem Anspruch bestätigt diejenigen, die die Weltgeschichte gerne als eine Folge von religiösen Verbrechen deuten wollen. Die Beweise dafür sind erdrückend. „Gott mit uns“ auf dem Koppelschloss deutscher Soldaten vor Verdun belegt diese Deutung ebenso wie vor 1000 Jahren Ritter mit dem Kreuz auf der Brust vor Jerusalem. Mir ist diese Deutung zu einfach, weil sie zu offensichtlich ist.
Ebenso wenig wie die Kreuzritter etwas über das Christentum aussagen, stehen barbarische 20-jährige Mörder für den Islam. Eine ganz andere Erkenntnis scheint mir viel offenkundiger zu sein: Barbarei bedarf offenkundig einer höheren Begründung, bevor sie endgültig im Blut ertrinkt. Das völlig areligiöse Terrorregime Pol Pots in Kambodscha ermordete Menschen, weil sie eine Brille trugen und sich dadurch als Intellektuelle auszeichneten. Auf dem Weg zu einem dem Menschen gemäßen Urkommunismus sei das legitim, behauptete der vormalige Chefideologe aus Anlass seiner Verurteilung vor einiger Zeit.
Wenn das Leben und das Wohlergehen eines einzelnen Menschen nichts mehr zählt und dafür über den Einzelnen hinausreichend Interessen alles legitimieren, dann ist die nächste menschenverachtende Barbarei nicht mehr weit. Ich kenne keine Religion, die das legitimieren würde. Im Grundsatz verfolgt jede Religion den Gedanken, das tiefste Wesen des Menschen nicht in ihm selbst, sondern jenseits menschlicher Grenze zu erkunden. Überraschenderweise decken sich die ganz unterschiedlichen religiösen Ansätze dabei in einer prinzipiellen Friedfertigkeit. Wer also der Religion die Schuld an der Gewalt gibt, unterliegt entweder einer ideologischen geformten oberflächlichen Geschichtsdeutung oder weigert sich, Religion als zentrale lebensprägende Äußerung von Menschlichkeit zur Kenntnis zu nehmen.
Die Wittenberger Reformation, die am 31. Oktober 1517 ihren Ausgang nahm, war, neben vielen anderen, ein erneuter Versuch des Christentums, den lebensdienlichen Charakter und die Menschenfreundlichkeit Gottes von den menschlichen Machtverzerrungen zu lösen. Der ein wenig später einsetzende Bauernkrieg zeigt jedoch, wie wenig Martin Luther und seine Zeitgenossen vor den Irrwegen ihrer Zeit gefeit waren.
„Nicht weniger Religion, sondern mehr Religion!“ muss das Motto stets aufs Neue lauten. Bei kritischer Selbstbetrachtung die eigenen Grenzen zu sehen und im Glauben zu überschreiten, war das Anliegen der Reformation. Ganz im Leben zu stehen und dennoch aufrecht vor Gott treten zu können – nicht aus eigener Vernunft und Kraft, sondern aus Gottes Barmherzigkeit – bleibt der reformatorische Kerngedanke, der mit Abstand nicht nur für evangelische Christen gilt, sondern der gesamten Christenheit eingeschrieben ist.
Diesen Gedanken absichtsvoll ins Abseits zu schieben und durch einem im letzten unbegründeten Humanismus ersetzen zu wollen, war einer der Gründe für die barbarischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. „Keine Religion!“ ist keine Lösung, sondern Teil des Problems. Der Reformationstag – bei uns sogar als Feiertag – bietet Gelegenheit, darüber nachzudenken.
Joachim Liebig – Kirchenpräsident
Ballenstedt, Bernburg, Dessau, Köthen, Zerbst – Landeskirche