"Kein Requisit eines Familienfestes“
Dessau-Roßlau, am – In seinem Weihnachtswort hat der anhaltische Kirchenpräsident Joachim Liebig auf die Aktualität der Weihnachtsgeschichte angesichts der Millionen von Flüchtlingen in Europa und der ganzen Welt hingewiesen. „Wer bisher geglaubt hat, die Weihnachtsgeschichte ist einfach nur ein Requisit eines gemütlichen Familienfestes, hat diese Geschichte nie verstanden. Das Weihnachtsfest und die Geburt Gottes als Kind in diese Welt sind so radikal wirklichkeitsnah, wie eine Geschichte nur sein kann.
Weil sie die Wirklichkeit so realistisch beschreibt, ist auch die Zusage der Geschichte real: Gott lebt nicht in Menschen abgewandter Entfernung – Gott ist uns so nahe, wie ein Kind seinen Eltern. Das ist der Kern der Weihnachtsgeschichte.“
Das gesamte Weihnachtswort
An Heiligabend weinte meine Großmutter. Viele Jahre dachte ich, es sei die Rührung, wenn die ganze Familie um den Weihnachtsbaum versammelt war. Erst als ich längst in die Schule ging, erzählte sie mir den Grund. Als mein Vater bereits in Kriegsgefangenschaft war, brach sie mit meinem Großvater und meiner Tante in Schlesien auf, um vor der heranrückenden Front zu fliehen. In Thüringen starb mein Großvater an Entkräftung. Das Weihnachtsfest 1945/46 verbrachte meine Großmutter mit ihrer halbwüchsigen Tochter in einer Scheune in Thüringen. Eine einzige Kerze ersetzte den Weihnachtsbaum. Nach mehr als einem Jahr auf der Flucht wurden meine Großmutter und meine Tante in ein kleines Dorf in Südniedersachsen eingewiesen. Der Empfang dort war mehr als frostig. Es dauerte Jahre, bis mein Vater aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Es dauerte Jahrzehnte, bis meine Großmutter über die Erlebnisse ihrer Flucht reden konnte. Und dann gab es Ereignisse wie den Heiligen Abend, an dem berühmteste Fluchtgeschichte der Welt erzählt wurde. Und meine Großmutter sah sich selbst und ihre Tochter in dieser Geschichte.
Seit 2000 Jahren wird an Heiligabend die Geburtsgeschichte Jesu in einem ärmlichen Stall in Bethlehem erzählt. Direkt im Anschluss an die Geburt muss die junge Familie auf die Flucht gehen. Für meine Generation und Jüngere war das stets eine Geschichte, die in weiter Ferne spielt. Ich habe Gott sei Dank keine Fluchterfahrung. Aber schon in der eigenen Familie, bei meiner eigenen Großmutter spiegeln sich alle Erfahrungen der biblischen Wirklichkeit. Dazu gehört die Angst vor der ungewissen Zukunft ebenso wie die Einsamkeit in vollständig fremder Umgebung. Wer bisher geglaubt hat, die Weihnachtsgeschichte ist einfach nur ein Requisit eines gemütlichen Familienfestes, hat diese Geschichte nie verstanden. Das Weihnachtsfest und die Geburt Gottes als Kind in diese Welt sind so radikal wirklichkeitsnah, wie eine Geschichte nur sein kann. Weil sie die Wirklichkeit so realistisch beschreibt, ist auch die Zusage der Geschichte real: Gott lebt nicht in Menschen abgewandter Entfernung – Gott ist uns so nahe, wie ein Kind seinen Eltern. Das ist der Kern der Weihnachtsgeschichte. Dieser Kern lässt mir an jedem Heiligen Abend ganz verstohlen eine Träne aus dem Auge laufen. Nicht vor Rührung, sondern vor Erleichterung. Ich bin nicht allein – Gott ist mit mir, ganz gleich, was kommen mag. Ich wünsche uns allen ein gesegnetes Christfest in der trostvollen Gewissheit, Gott war Mensch wie wir.
Anhang: „Die Flucht nach Ägypten“ von Rembrandt van Rijn, Musée des Beaux Arts Tours, Gestaltungsidee von Carsten Damm
Kirchenpräsident Liebig zum Weihnachtsfest – Beitrag auf SAW
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