Evangelische Landeskirche Anhalts

„Im Fremden ein Geschöpf Gottes sehen“

Dessau-Roßlau, am – „Wir sind das Volk!“ So kann man es in der jüngsten Zeit wieder auf Straßen und Plätze in unserer Region hören. Im Unterschied zu den Demonstrationen vor 25 Jahren behauptet hier eine wachsende Anzahl von Menschen, das Volk zu sein und hat doch einen ganz anderen Anlass. Ging es vor 25 Jahren um das Ende eines Staates und seiner Bespitzelung der Bürger, machen sich nun Menschen Sorgen um ihren Wohlstand und die angebliche Islamisierung des Abendlandes.

Hin und wieder wird sogar behauptet, es müsse doch ein zentrales Anliegen der Kirchen sein, dem Islam entgegenzutreten. Es heißt, man müsse die Furcht der Demonstranten ernst nehmen. Das stimmt! Die Furcht der Menschen vor der Islamisierung des Abendlandes ist so ernst zu nehmen, wie man die Furcht eines Patienten ernst zu nehmen hat, der glaubt, morgen ginge die Sonne nicht mehr auf.

In den Ballungsräumen Großbritanniens und Frankreichs gibt es eine explosive Mischung von radikalem Islamismus, Armut und Gewalt. Selbst in den schwierigsten Wohnquartieren Deutschlands sind wir davon weit entfernt. Mit einem Anteil von unter 2 Prozent stellen Muslime eine extreme Minderheit in Mitteldeutschland. Die mit Abstand größte Zahl der Menschen ist religiös überhaupt nicht gebunden. Da ist es gut möglich, dass die Furcht vor dem Fremden im Grunde eine verkappte Furcht vor der eigenen Leere ist.

Wer dem Islam als Religion beherzt entgegentreten will, muss umso genauer wissen, wie die eigene religiöse Fundamentierung ist. Wer glaubt, bereits mit diffusen Ängsten ernst genommen werden zu müssen, leistet dem Rassismus Vorschub – egal, wie häufig dieser berechtigte Vorwurf zurückgewiesen wird. Wer allen Flüchtlingen unterstellt, sie seien potentielle Drogendealer und Schwerverbrecher, missachtet die Tatsache, dass der Mensch gewordene Gott Jesus von Nazareth zur Zeit seiner Geburt, an die wir zu Weihnachten erinnern, sofort zum Flüchtling wurde. Er musste mit Joseph und Maria vor den Nachstellungen des Königs Herodes nach Ägypten fliehen.

Kann es nicht auch sein, dass der junge gut ausgebildete Mann aus Syrien die Idee zu einem neuen Krebsmittel im Kopf hat? Ist es nicht auch denkbar, die ehrgeizigen Kinder der iranischen Flüchtlingsfamilie werden in späteren Jahren wunderbare Musikstücke komponieren?

Die Menschen auf den Straßen mögen behaupten, sie seien das Volk. Dann wäre es ein Volk, für das ich mich schäme. Nicht zuletzt die dumpfe Furcht und Unwissenheit vieler Menschen hat im 20. Jahrhundert Deutschlands in Katastrophen ohnegleichen geführt. Wer die Probleme der Gegenwart ernsthaft lösen will, stellt der Furcht Zuversicht und den dumpfen Behauptungen Kenntnis entgegen. Als Christ besinne ich mich auf meinen Glauben, der auch in dem Fremden ein Geschöpf Gottes sieht. Das ist nicht naiv, sondern richtig.

Joachim Liebig Kirchenpräsident

Ballenstedt, Bernburg, Dessau, Köthen, Zerbst – Landeskirche